Choreography Of Sound – Between Abstraction and Narration

Vor genau hundert Jahren, im März 1913, forderte Luigi Russolo in seinem emphatischen Manifest "L'arte dei rumori" die Erweiterung des akustischen Kunstbegriffs, und wegen der Lautstärke seiner Erhebung des Krachs zur Musik wird oft überhört, dass Orlando Gibbons bereits im 17. Jahrhundert mit offenen Ohren durch London lief und in den "Cries of London" Alltagsgeräusche als Kompositionsmaterial verwandte. So zeigt schon ein flüchtiger Blick auf die Kulturgeschichte, wie das Interesse der Künste am Akustischen, am Immateriellen und Atmosphärischen in Wellen verläuft: mal steigt es an, dann ebbt es wieder ab.

Großveranstaltungen wie die documenta13, die letzte Biennale in Venedig, brandaktuelle Sonderforschungsbereiche und Tagungen, dazu eine fast nicht mehr zu überschauende Anzahleinzelner Künstlerprojekte sind Anzeichen dafür, dass der Interessenspegel in letzter Zeit wieder immens gestiegen ist. Bei der akustischen Erfahrung spielt der künstlerische Einsatz von Stimme, Sprache, Rede, Bewegung, Sound, Geräusch und Musik eine entscheidende Rolle. Kein Wunder, denn über das Ohr gelangen akustische und räumliche Informationen ungefiltert in tiefere Schichten des Bewusstseins, zu Erinnerungen, Gefühlen und – konkreter: ins körperliche Orientierungszentrum. Mit dem Klang lässt sich vieles sehr unmittelbar aufspüren, erzählen und abbilden. Die Erfahrung von Zeitgeschichte etwa kann über Soundrecherchen spielend leicht mit privater Geschichte verbunden werden, denn der Klang ist ein Gefühls- und Gedächtnisspeicher. Die Stimme, als "irdischer Steckbrief des Menschen" (so Rudolf Arnheim), holt den Körper direkt in den Raum – auch wenn die Bühne, der Installationsraum, der öffentliche Platz ansonsten menschenleer sein mögen. Es ist denkbar, dass gerade die Flüchtigkeit und die gleichzeitige Intensität der zeitbasierten Wahrnehmung von Klang uns Menschen deshalb so nahe geht, weil wir während des Zuhörens immer wieder auf uns selber zurück geworfen werden und gleichzeitig neue Erfahrungen machen. Viele Künstler arbeiten also mit dem Akustischen, um ihren Werken die Möglichkeit dieses neuen Erlebnisses hinzu zu fügen und damit die Verbindung zwischen Aussage und Rezeption enger zu gestalten. Wo steht nun die Radiokunst in diesem Zusammenhang?

Das Radio, seit über achtzig Jahren spezialisiert auf die künstlerische, dokumentarische oder realitätsabbildende Repräsentation der Welt durch das akustisch Gestaltete, ist das Chamäleon unter den Medien: flink und ständig wandelbar. Beweglichkeit, Offenheit und Breitenwirkung des Radios hat Künstler seit jeher angezogen, denn all dies steht für eine Spezifik, die RichardKostellanetz – mit Blick auf John Cage – "polyartistisch" genannt hat. Wie nun das Hörspiel, die ureigenste Form des Radios, als polyartistisches Medium den anderen Kunstsparten einen aktiven Spielraum bietet, ist eines der Themen dieses Symposiums. Gefragt wird auch, wie die anderen Künste – Literatur, Theater, Bildende Kunst, Neue Musik, Oper – sich diesem Akustischen zuwenden. Choreography Of Sound setzt also das Hörspiel zu den anderen Künsten in Beziehung. In der Begegnung verschiedener Disziplinen werden die ästhetischen Möglichkeiten des Akustischen ausgelotet und neuere Entwicklungen thematisiert. Hörspielmacher treffen auf Soundpoeten, Theoretiker, Theatermacher, Autoren, Komponisten und Performance-Künstler, deren Arbeiten die Grenzen angestammter Genres überschreiten. Wir werden der Frage nachgehen, welche Rolle Klänge, Geräusche, Sprache, Rhythmus und Musik in ihren Arbeiten und in ihrem Denken spielen. Und welchen Einfluss neue technische Gegebenheiten auf Erzähl- und Rezeptionsformen haben. Wir möchten auch wissen, was zwischen den Extrempositionen von dokumentarisch-sensiblem Field Recording und aggressivem Marketing Leasure Sound geschieht, wo letzterer doch mit gleichem Wissen und gleichen Mitteln wie die Künste agiert.Sind von der Kunst angestoßene Kommunikation und Interaktion zunehmend auf die internationale Netzwelt ausgerichtet oder gibt es – gegenläufig – eine Rückkehr zum unwiederholbaren, analogen und auratischen Erlebnis, wie es Kunstprojekte der letzten Zeit zeigen? Und: ist dies überhaupt als Gegensatz zu formulieren? Hat nicht vielmehr das gespeicherte und vervielfältigte Kunstwerk von Anfang an eine ihm eigene mediale Aura entwickelt, wie frühe Medientheoretiker von Kurt Weill bis Rudolf Arnheim bemerkt haben? Ein Blick auf die ältere und mittlere Mediengeschichte wird unser Treffen der Kunstsparten einleiten. Dann gehört die Bühne der performativen Wortkunst und einer spielerischen Begegnung mit den Künstlern im „Get In Touch“. Den Tagesabschluss bildet das Hörspiel und seine verschiedenen Facetten des Narrativen.

Nach diesem Auftakt wenden wir uns dem fruchtbaren Spannungsverhältnis zu, das zwischen der Bildenden Kunst und dem Akustischen vibriert. Wir lernen Soundpionierinnen kennen, reden über die Musik und deren Vorkommen in der niederländischen Malerei, bevor wir uns den Körpern nähern, die in choreographischen Arbeiten rhythmisch erzählen. Den Abschluss des Symposiums bildet das Nachdenken über Sounds im Stadtraum, die allzu oft nur als störende thematisiert werden – was sie aber vielleicht gar nicht sind. Soundrecherche, Sounddesign und Positionen des Geräuschewildwuchs werden miteinander in Kontakt treten. Mit den Worten des Stadtraumforschers Iain Sinclair: Wir müssen einfach besser hinhören! 

Gaby Hartel & Marie-Luise Goerke
Kuratorinnen